Interview mit Husni Lagot über die Anfänge von Graffiti in den 1980er Jahren und den Beginn einer unaufhaltsamen Jugendbewegung
„Graffiti liebt man oder man hat gar keine Ahnung“
Wir haben den Hamburger Künstler Husni Lagot über den Beginn der Graffitibewegung in den 1980er Jahren in Deutschland und Hamburg interviewt. Husni spricht in einem ausführlichen Interview über die Anfänge von Graffiti, die unglaubliche Faszination sowie das Wachsen und Werden einer der größten Jugendbewegungen der Welt. Und darüber, wo Graffiti seiner Meinung nach heute steht. Zudem hat Husni bisher unveröffentlichte Fotos der 1980er aus seinem privaten Archiv hervorgeholt.
Erzähl uns ein paar Worte über dich.
Mein Name ist Husni Lagot. Ich bin 42 alt, und wurde 1972 in Hamburg geboren. Ich arbeite als freier Künstler in Hamburg. Graffiti öffnete meinen Geist und ist die Kunst meiner Jugend. Als ich siebzehn Jahre jung war erschuf ich meine erste fliegende Pyramide mit der Sprühdose. Damals glaubte ich noch, ich wäre unsterblich. Die Kunst der Jugend, das ist Graffiti.
Was hat dich zum Graffiti gebracht und wann genau war das?
Die Begeisterung am Zeichnen und dieses Lebensgefühl. 1977, im alter von 5 Jahren war ich stark von meinen zwei älteren Brüdern beeinflusst und geprägt worden, die beide hervorragende Zeichner waren und unfassbar viele Studien machten, welche mich komplett faszinierten und in ihren Bann zogen. Sie waren meine Vorbilder. In meinem Kopf höre ich noch ganz klar und deutlich: ha ha ha ha Stayin Alive, Stayin Alive, ha ha ha ha Stayin Aliiiiiive ooohh – Power.Eines Tages, so schwor ich mir, werde ich ein Künstler, bei Gott. Mein persönlicher Kindheitstraum! Wir zeichneten das, was uns in die Hände fiel mit der Intensität und Hingabe, die uns in die Wiege gelegt worden war. Wir zeichneten Naturdarstellungen von Fotos, Büchern, Covern und Postern… Bilder wie Helden, Aktdarstellungen, Motive aus der Tierwelt, Fabelwesen, Science Fiction, Thriller, Comic, und Fantasy Art etc… Bevor ich mit Graffiti 1981 in Hamburg anfing, zeichnete ich schon viele Jahre und Graffiti war die neue junge aufregende Kunstform unserer Zeit. Als ich einmal in die Schule kam, sagte mir mein Freund, ich sollte mal jemanden kennenlernen, der macht Graffiti. Was ist das? fragte ich. Er antwortete: Ein Trend aus Amerika. Das kommt aus Los Angeles und der Stadt New York…Amerika man…, das ist absolut angesagt dort und bringt wahnsinnigen Nervenkitzel ein. Ich hatte keine Ahnung. Als ich ihn traf stellte sich heraus, das er amerikanischer Staatsbürger war. Wir kamen gleich sehr gut miteinander aus. Seine Eltern flogen wohl regelmäßig in die Heimat mit ihm, denn er zeigte mir selbstgeschossene Fotos von Graffiti Bildern aus dieser irren großen Weltstadt. Tags und Pieces so wild und bunt, ungezähmt frech und frei! Sofort wurde mir klar, ja, das war genau das was ich wollte. Wir fingen gleich an zu zeichnen. Das spannendste bei Graffiti ist das Verbotene und die eigene Kreativität die es abverlangt. Es geht um Anerkennung, Freundschaft und Ruhm/Fame. Graffiti liebt man oder man hat gar keine Ahnung. Dann fing die aufregendste Zeit meiner Jugend an. Ich war neun Jahre, blutjung und wahrhaftig. Überall schrieb ich meinen Namen. Graffiti. Das war eine Revolution. Ich war da nicht der einzige.
Wie war dein erster Writername?
Kürzlich habe ich einen Artikel im Internet gelesen indem stand, dass ein Graffitiwriter/-Sprayer noch bis zu dreißig Jahren nach seinen Aktionen geahndet werden kann!! Ob das wohl stimmt? Aber die dreißig Jahre sind ja um, und desshalb sage ich ihn euch: Ken. Ich benutzte ihn wenige Jahre. Tatsächlich wurde ich mit elf oder zwölf Jahren mit einigen meiner Graffitifreunde auf dem S-Bahn Bahnsteig am Hamburger Hauptbahnhof von der Polizei aufgegriffen und sie erwischten uns auf frischer Tat. Das war ein Schock. An dem Tag hatten wir kein Glück und bekamen später eine Rechnung von cirka 200.000,- DM, heute also umgerechnet 100.000,- Euro. Es wurde gegen uns ermittelt und das ganze sollte vor Gericht landen. Schließlich wurde die Anklage fallen gelassen. Wir waren einfach zu jung. Huhh. Später kamen mindestens noch sechs Namen hinzu. Heute schreibe ich nur noch meinem echten Namen: HUSNI LAGOT.
Du hast die Entwicklung des Graffiti in Hamburg von Anfang an mitbekommen. Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, als Graffiti das erste mal Thema war und nach Deutschland rüber schwappte? Wie war das?
Ich hatte das einmalige Glück, Graffiti einige Monate vorher kennenzulernen, bevor die deutsche Presse davon Wind bekam und darüber angefangen hat zu Schreiben. Graffiti war erst lautlos und leise, doch schließlich mit voller Kraft zu uns gekommen. Plötzlich berichteten einige Medien nebenbei von Graffiti und von Vandalismus. Straßenkids aus den USA beschmieren Wände und U Bahn Waggons. Das ist skandalös und Sachbeschädigung. Wut und Ärger darüber entbrannte fast überall… Diese jugendlichen gehören ins Gefängnis!, … oder wer soll dafür verantwortlich gemacht werden und wie schaffen wir es die jugendlichen Vandalen davon abzubringen ..? Sie zerstören fremdes Eigentum und schrecken vor nichts zurück! Aber Graffiti war nicht aufzuhalten. Panik auf der einen, und Euphorie auf der anderen Seite brachen aus. Man versuchte Graffiti zu stoppen, aber vergebens. Es war zu spät dafür. Das machten bereits so viele, dass es unmöglich schien gegen eine solch geballte Energie von jungen Menschen stand zu halten. Diese Graffiti-Lifestyle-Lawine walzte alles platt, was sich ihr in den weg stellte. Plötzlich drang ein langsamer und cooler hämmernder Funk Beat in unsere Ohren. Brandneu, und frisch aus dem Ghetto Ofen vom Big Apple. Arrangiert mit schäppernder Syntheshizer, zirpenden Grillen mit unschuldig pfeifenden friedlichen Vögeln: It´s like a jungle sometimes, it makes me wonder how i keep from goin´under – Broken glas everywhere People p….. on the stairs, you now they just don´t … BUMMS, das war´s. The Message von Grandmaster Flash & The Furious Five platzte in die Charts herein. Dieser Sound ermutigte uns weiterzumachen und verhalf uns, unsere Identität und zu uns selbst zu finden. Wir erkannten das Potenzial dieser Hip Hop Bewegung. Break Dance, B Boying/Writing, DJing und MC Rapping. Wir nahmen uns jede Linie, jeden Train, jeden Waggon und Wand vor, die unsere Augen kreuzten und bombten was unsere Marker an Saft noch hergaben. Edding Marker und Posca Stifte waren unsere Waffen. Sprühdosen wie Marabou, Sparvar sowie Krylon Cans unsere Geliebten mit der wir die Welt für uns einnahmen. Diese Lackgerüche vergisst du niemals. Wir stiegen in eine sogenannte weiße Linie ein, und verließen sie bei der nächsten Station mit einem extatischen, lächelndem Ausdruck im Gesicht. Nachfolgende Fahrgäste die einstiegen, nahmen zu allererst olfaktorisch wahr, das hier etwas anders war als sonst. Irgendetwas stimmte nicht. Auf den zweiten Blick sahen sie dann das ganze Ausmaß der Guerilla Attacke. Wir durften uns nicht erwischen lassen, das war sehr gefährlich und hochriskant, denn die Mitarbeiter der Bahn hatten schon davon Wind bekommen und riefen sofort die Polizei. Das Bombing/Taggen – seinen Namen schreiben – war eine nicht zu unterschätzende, spannende Angelegenheit. Aufregung garantiert, ja extatisch geradezu. Das war nichts für schwache Nerven. Wir planten im Voraus soweit es uns möglich war und wählten uns Linien aus, die wir gut kannten um keine bösen Überraschungen zu erleben. Sehr oft ging das gut. Doch erwischt hatte es beinahe jeden einmal von uns.
Ich könnte Sachen erzählen, die euch aus euren Sneakers hauen. Hamburg bestand damals aus fünfzehn bis maximal zwanzig Graffiti Writer´n. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft aus jungen Teenagern für die Graffiti ein Ausdruck von Rebellion und Freiheit war und heute noch ist. Ich erlernte das Sprüherhandwerk aus meiner Erfahrung und drang bis an die technischen Grenzen der Sprühdose. Bei meiner ersten fliegenden Pyramide Nr. 1, Die Ankündigung von 1991, sieht man das deutlich. Auch sprühte ich mit den damals besten Writern der Stadt Hamburg, wie: Zack, Cisco, Jaze am Anfang der achtziger Jahre. Später dann mit Skena, Cantwo, Jase, Shane, Zebster und Hesh u.v.a. Graffiti sprach alle ethnischen Gruppen und Menschen aus allen sozialen Schichten an. Wir waren Spanier, Griechen, Deutsche, Asiaten, Italiener, Türken, Amerikaner, Aramäer, Engländer und vielen anderen… Style Wars – der Dokumentarfilm von den Anfängen des Graffiti, durfte ich noch in Originalversion sehen auf Video im Jahre der Enstehung1982/83 bevor es 1983 mit dem Titel: U -Bahnbilder und verückte Beine – in Deutschland ausgestrahlt wurde mit deutscher Übersetzung. Ein fantastisch inspirierender Film über Graffitisprayer wie Seen, Dondi, Futura, Skeme und dem Tänzer Crazy Legs… legendär! – unsere damaligen Helden aus der Bronx, New York – Amerika.
Billie Jean aus dem Album Thriller von Michael Jackson ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Popkultur von der Streetculture hat inspirieren lassen, als er rückwärts über die Bühne ging/tanzte und zu schweben schien. Später sagte er mit eigenen Worten: Er habe sich das von begnadeten Tänzern auf der Straße abgeguckt. Es waren Break Dancer die diesen Tanz-Move kreierten. Das wissen die allerwenigsten. Danach kam Wild Style – ein junger Graffiti Writer Namens Zoro, gespielt von Lee, kämpft mit sich und der Welt. Let the Musik play, he you want get away… sang Shannon und stürmte mit treibendem, klirrend lautem Schlag-Beat in unsere Herzen. Die Zeitschrift Bravo begann viel über die urbane Bewegung zu berichten und bildete regelmäßig Graffitikünstler, MC´s und Break Dancer ab, wie beispielsweise Mr. Robot… Der Film Beat Street erschien. Es geht um Freundschaft, das Leben, Kunst, Musik, Liebe, Familie und um das Geschäft – das Business. Er handelt vom realen Leben der Graffitikünstler, Break Dancer, Dj´s und Rapper, die gefangen in ihrem harten Alltag, ihr Leben in den Griff bekommen wollen und es zum Schluss des Films auch schaffen. Ein Kultfilm! Das vielleicht wichtigste Bilderbuch über die New Yorker Graffiti Szene – Subway Art – von der Fotografin Martha Cooper und dem Künstler Henry Chalfant erscheint. Wahnsinnig lebendige Fotoaufnahmen von Graffiti auf U-Bahn-Waggons und Wänden von den bekanntesten Graffiti Namen der Millionen-Metropole NYC- USA. Die ganze Stadt ist bemalt und bunte Züge fahren in Tunnel und über Brücken und verwandelten die Stadt in eine Freiluft-Galerie, ein öffentliches Kunstmuseum. Kunst war nicht mehr allein der gehobenen Gesellschaft und der Elite vorbehalten. Jeder hatte auf einmal die Möglichkeit in den Kunstgenuss der wilden virtuosen Styles und Characters zu kommen, um vielleicht auch selbst aktiv in dieser Kunstform zu werden. Graffitikunst ist für alle da. Graffiti kommt von der Straße und ist aus dem echten Leben der Menschen entstanden. Deshalb ist diese Kunstform auch Authentizität in reinster Form und Farbe. Graffiti sprach alle an und trat zu Recht den Siegeszug an. Auch ein weiteres Buch wurde veröffentlicht: Spraycan Art – tat seine Wirkung auf und feuerte das bereits brennende Fieber namens Graffiti mächtig an. Mode2 und Bando, damals noch aus Paris, werden niemals vergessen sein. Deutschland und ganz Europa hatte nun eine große eigene Graffitikultur entwickelt. Cantwo, Loomit, WonABC, Bomber, Neon, Swift, Storm, Cemnoz , Zebster, und der Rapper Torch, um jetzt hier nur einige zu nennen…, brachen zu neuen Ufern auf. Eine fette Jam jagte die nächste. Alles wurde sehr groß und unüberschaubar. Rap Musik von Gruppen wie Run DMC, LL Cool J, den Beasty Boys und Public Enemy hatten nun freie Räume, um das Sprachrohr einer ganzen Generation zu werden. Die Hip-Hop-Kultur eroberte im Sturm Europa und ich bin Stolz darauf, ein Teil dieser Jugendkultur in Deutschland gewesen zu sein und hoffe, dass ich mit vielen anderen grandiosen Writern aus meiner Zeit ein wenig dazu beitragen konnte, Graffiti in Hamburg bekannt gemacht zu haben und vielleicht für den einen oder anderen eine Inspiration gewesen zu sein. Ich war nie arrogant oder ablehnend gegenüber anderen. Es geht um Respekt und Toleranz. Ich wollte meinen Spaß und habe ihn zur Genüge bekommen. Ich hatte einfach Glück, zur richtigen Zeit und ziemlich viele Namen. This is it! Graffitology.
Kannst du dich noch daran erinnern, das erste Whole Car durch Hamburg fahren zu sehen?
Ja, das ist alles ziemlich lange her, etwa dreißig Jahre. Ich weiß das einige Writerfreunde von mir mehrere Whole Cars gesprüht haben. Das waren aber auch Top-To-Bottems, End-To-Ends und Window-Downs, meistens jedoch aus Zeitgründen Window-Downs und Throw-Ups. Das Beste daran war natürlich später die bemalten Züge auch fahren zu sehen, was aber nicht immer der Fall war. Viele Trains wurden direkt aus dem Verkehr gezogen und sofort gebufft (gereinigt), was enttäuschend und schmerzlich zugleich war. Doch wenn sie fuhren, war das der Höhepunkt des Tages, klar. Adrenalin pur. Das sind die aufregendsten Momente eines jeden Sprayers, sein Graffiti-Werk auf Reisen zu schicken und dazu noch für alle sichtbar. Du kannst dir das nur vorstellen, wenn du es selbst mal erlebt hast. Das war ein belebendes einzigartiges Hochgefühl und spannend zugleich.
Habt ihr euch damals träumen lassen, dass Graffiti eines Tages in der Galerie hängen wird und auf dem Kunstmarkt eine Rolle spielt?
Nein. Überhaupt nicht. Nicht zu Beginn. Wir waren zu jung, um uns mit diesen Sachen auseinanderzusetzen. Ende der achtziger Jahre auf jeden Fall, denn Graffiti auf Leinwand war schon ein interessantes und zukunftsweisendes ernstes Thema für uns geworden. Die Mauer oder eine S-Bahn konnten wir ja nicht mitnehmen, das hatten wir begriffen. Und so gab es eben nur diese eine Möglichkeit um mit unserer Kunst auch Geld zu verdienen und setzten das auch teilweise um. Mir ist damals bewusst gewesen, dass für mich Graffiti in Galerien und auch ins Museum gehört, um mit vielleicht einigen Clichés bezüglich Graffiti zu brechen. Sicher kannten wir schon Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Keith Haring, die ja aus einer ähnlichen Denkart hervorgingen. Letzterer sogar direkt aus der New Yorker Graffiti Szene und mit Erfolg. Das Graffiti auch ein Publikum hat und kaufinteressierte Menschen anzog, merkte ich an drei oder vier Leinwänden, die ich 1987/88 sofort verkauft hatte. Graffiti hatte hier bereits viele Anhänger und die erste ernstzunehmende Graffiti-Ausstellung von 1991 wie in der Cosmix IQ Artgallery – Graffiti auf Leinwand (übrigens meine und Daim´s erste Graffitiausstellung), oder das Altonaer Museum mit – Narrenhände, …? – an beiden Ausstellungen nahm ich teil, – setzten hier in Hamburg einen ungewohnten neuen Blick auf Graffiti-Art. Nicht nur für unsere Corner und die vielen Graffiti-Crews unserer Stadt, sondern für uns alle die hier lebten. Damals wollte ich mich verändern, mich abgrenzen von den anderen und fing als einer der ganz wenigen an, an die Grenzen des Graffiti und des Machbaren zu gehen und erschuf schon damals meine eigenen 3D-Style-Lettern (eigener Buchstabenstil) und meinen abstrakten 3D-Graffiti-Style, der mich schlagartig bekannt machte, wie zum Beispiel meine Skizze – Revolution – zeigt und die bekannte fliegende Pyramide, die Ankündigung, aus dem gleichen Jahr. Sie ist das einzig verbliebene Relikt meiner aktiven Graffiti Zeit. Graffiti wurde medial und stylish.
Wie hat sich Graffiti bis heute verändert?
Meiner Meinung nach überhaupt nicht. Es existiert ein Graffitiglobus, dank Twitter, Facebook und Google, dessen Urheber das Internet ist. Als ich damals den Aufbruch miterlebte, waren wir sehr wenige die es ausübten. Graffiti begann gerade sich zu entwickeln, sich zu formieren und ergriff seinen Platz in der Welt. Jeder kannte jeden. Die meisten von uns waren damals minderjährig. War es noch der Lifestyle und die Euphorie zu Beginn, die wir in der Gemeinschaft erleben durften, so ist Graffiti heute erwachsen geworden. Graffiti ist heute zu einer Ware oder Produkt auf fast allen medialen Ebenen geworden, welche sich die Massenindustrie und Werbeagenturen zunutze gemacht hat, um gezielt junge Zielgruppen anzusprechen, zu erreichen und ihr Produkt zu verkaufen. Sie erkannten den Marktwert und die Kraft, die vom aufkommenden Graffiti ausging als neuen Teenage-Trend, der einen Lifestyle verspricht denen meistens nur junge Mädchen und Jungs angehörten. Das war zu Begin der achtziger Jahre nicht der Fall. Erst als das Internet ins Bewusstsein trat und Graffiti Länderübergreifend wurde, veränderte sich aus meiner Sicht der Graffiti-Code. Heute sieh man auf allen Kontinenten Graffiti sowie Urban Art und Street Art. Sei es in der Zeitschrift, im Film, in der Werbung, im Internet oder Printbereich. Ein Ende ist nicht abzusehen, das ist auch gut so. Warum auch nicht?! Graffiti ist ein Pulsschlag der Jugend, ein Manifest zum Aufbegehren und zur Party des Lebens. Der Ausruf „Ich bin hier“ ist bis heute unverändert. Graffiti ist immer noch attraktiv und aufregend für junge Menschen und das wird auch in der Zukunft so bleiben.
Einige sind der Meinung, dass Graffiti heute nicht mehr politisch ist, sondern eher nur noch die „Technik“ einer ästhetischen Ausdrucksform in der Kunst ist. Glaubst du, dass Graffiti seinen rebellischen Ursprung verloren hat?
Nein. Es mag zwar stimmen, dass sich einige nur allein auf die Technik verlassen, aber darauf kommt es nicht an. Der Inhalt und die Idee ist für mich ausschlaggebend. Technik ist erlernbar, Talent aber nicht. Das gilt auch in den anderen Kunstrichtungen. Der eigene Style ist viel wichtiger. Er markiert und individualisiert doch entscheidend, das eigene Können mit dem Umgang der Outline (Linie) für Form und Proportion und die persönliche Stellung eines Graffiti-Sprühers. Graffiti ist nach wie vor und immer noch rebellisch. Was als Auflehnung und gesellschaftlicher Protest begann, kann sich nicht so einfach in einen Hasen verwandeln. Oder etwa doch?
Hat sich die Wahrnehmung von Graffiti in der Öffentlichkeit verändert? Ist Graffiti heute gesellschaftlich akzeptierter als noch vor 10 Jahren?
Aus meiner Erfahrung nicht sehr. Einige Menschen zucken zwar heute noch zusammen wenn sie das Wort Graffiti nur hören. Das bedeutet, es löst ein wenig Gefahr oder Alarmbereitschaft aus, aber mit einem verzückten schmunzeln im Antlitz. Heute ist Graffiti als Kunstform anerkannt. Einige mögen das bis jetzt ignoriert haben, die Geschichte vergisst nichts. Das beweisen die Galeristen, Kunstsammler, Kuratoren und Direktoren von Museen aus der ganzen Welt, die in Graffiti und urbane Kunst investieren oder eben diese vermitteln, eine Auswahl treffen, Handel betreiben, eine Ausstellung planen und organisieren etc… Besucher sind interessiert und fasziniert zugleich. Sie stellen fest, das Graffiti eine Macht hat, der sie sich nicht entziehen können. Die Akzeptanz denke ich, ist bei den meisten von uns vorhanden, was aber nicht heißen soll, das es auch Gegner gibt und geben wird. Graffiti ist Illegalität. Das ist kein Aufruf, sondern Fakt. Die verbotene, junge bunte Kunstrichtung aus der Sprühdose.
Wo geht es deiner Meinung nach mit der Kunstrichtung Graffiti hin?
Graffiti hat viele Gesichter. Graffiti ist heute ein Schlagwort. Graffiti wird noch stärker in Galerien und Museen gezeigt werden. Ich denke es wird immer Leute geben, die in der Illegalität ihren Reiz suchen und andere die mit dieser / ihrer Kunst, ihren Lebensunterhalt bestreiten und Geld verdienen möchten. Diese zwei Optionen sollte man sich gut überlegen. Die Frage auf beiden Seiten ist immer zu welchem Preis. Graffiti gibt es bereits ein halbes Jahrhundert. 50 Jahre und was findet statt? Eine nicht endende Entwicklung dieser Kunst. Ich beobachte, dass seit einigen Jahren Graffiti mit anderen Kunstdisziplinen verschmilzt. Neo Rauch ist ein heimlicher Graffiti-Maler. Ihr glaubt mir nicht. Seht genau hin, seine Throw-Ups haben mich beeindruckt. Wer hat das gesehen?
Vielen Dank für das Interview.
Über den Künstler: Husni Lagot wurde 1972 in Hamburg geboren und zeichnete bereits als fünfjähriges Kind. Diese waren aber keine Kinderzeichnungen. Er stammt aus einer Künstlerfamilie. Beeinflußt von seinen zwei hochbegabten älteren Brüdern, entdeckte er die Hingabe zur Kunst für sich. Die kreative Ader des Kindes wurde geweckt und gefördert und so konnte sich seine Kunst weiter entwickeln. Sie sollte schließlich sein Leben verändern und bestimmen. 1981 fing er durch einen amerikanischen Schulfreund, der regelmäßig in die USA reiste, mit Graffiti Art an. Sein Freund zeigte ihm Fotos von Wänden und der New Yorker Subway. Husni Lagot war sofort begeistert. Sie zeichneten und skizzierten von diesem Moment an, jeden freien Tag. Husni Lagot zählt zu den ersten Graffiti Pionieren – sogenanten Writern – in Hamburg, Deutschland und Europa. Er gilt heute als innovativer, einfallsreicher Graffiti- und Street Art Künstler, der andere mit seiner neuen Technik begeistert. Zehn Jahre später, im Jahre des Herrn 1991 entwickelte der Künstler Husni Lagot seinen ganz eigenen Graffiti Mal- bzw. Kunst-Stil: den 3D-GRAFFITI STILISMUS – kurz: 3D-STYLEISM von ihm getauft. Ein brandneuer, abstrakter, räumlich-tiefer und komplexer Graffiti-Kunst Stil. Man sieht virtuose Formen und Linien, die an Architektur, Futurismus oder moderner Kunst erinnern mit ungezähmter frischer Sprühdosen Farbe aufgetragen. Die erste Leinwand-Arbeit von Husni Lagot entsteht. Die FLIEGENDE PYRAMIDE Nr.1, mit dem Titel: DIE ANKÜNDIGUNG. Schon hier wird deutlich, mit welcher imaginären Kraft der Künstler versteht, seine innere Welt, uns mitzuteilen. Das Altonaer Museum für Kunst und Kultur-Geschichte in Hamburg überraschte ihn im selben Jahr mit einem Sonderpreis für seine abstrakte 3D-Graffiti-Kunst. Die FLIEGENDEN PYRAMIDEN und sein 3D-STYLEISM sind zu seinen bedeutenden Schöpfungen, seinem Markenzeichen in der Kunstwelt geworden.
Husni Lagot ist Aramäer und 1972 als viertes von insgesamt sieben Kindern in Hamburg geboren worden. 1992 studierte er Grafik-Design an der AWGD und Design in Hamburg und anschließend Kunst, Mode und Kunstgeschichte an der Neuen Kunstschule Zürich in der Schweiz. Husni Lagot ist glücklich verheiratet und hat zwei wunderbare Töchter. „Wenn ich kreativ Arbeite entspannt mich das. Ich bin hochkonzentriert und voll bei der Sache. Alles kann geschehen, wenn ich es will. Ich liebe diesen Zustand. Ich bin dann glücklich und zufrieden mit mir und der Welt.“ (Text: Husni Lagot, 2014)
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Alle Bilder stammen aus dem privaten Archiv von Husni Lagot. Mit freundlicher Genehmigung